Kolonialzeit

Kolonialherrschaft in Belgisch-Kongo: Die Charta und ihre Folgen

Das politische System im Belgisch-Kongo war in der Kolonialcharta verankert, die als Verfassung der Kolonie diente. Die Charta etablierte eine hierarchische Verwaltungsstruktur, die von Belgien aus kontrolliert wurde.

Tshibumba Kanda Matulu, „Colonie Belge“, Lubumbashi
 

Struktur der Kolonialverwaltung:

  • Belgien: Kolonialministerium mit sechs Abteilungen unter der Leitung eines Ministers.
  • Kolonie: Generalgouverneur in Léopoldville (heute Kinshasa).
  • Provinzen: Sechs Provinzen, geleitet von Gouverneuren.
  • Distrikte: Unter der Aufsicht von Distriktskommissaren.
  • Unterbezirke: Verwaltet von Unterbezirksverwaltern.

Ziele der Kolonialpolitik:

  • Steigerung der Produktion und des Exports.
  • Durchsetzung einer paternalistischen Politik basierend auf der „kolonialen Dreifaltigkeit“:
    • Staatliche Verwaltung
    • Private Wirtschaftstätigkeit
    • Kirchlicher Einfluss auf das Bildungswesen

Einfluss des Zweiten Weltkriegs:

  • Sieg der Alliierten über Nazi-Deutschland erschütterte das Prestige der Kolonialmächte.
  • Unfähigkeit der Kolonialmächte, ihre Einflusssphären zu verteidigen, wurde offenkundig.
  • Demütigendes Verhalten der Kolonialverwaltung entlarvte die Schwäche der Kolonialherren.
  • Politisches Erwachen und Selbstbewusstsein der kolonisierten Bevölkerung wuchsen.

Die Kolonialcharta etablierte ein hierarchisches System zur Ausbeutung der Ressourcen und Arbeitskraft im Belgisch-Kongo. Der Zweite Weltkrieg trug zum Erwachen des Nationalismus und zur Forderung nach Selbstbestimmung in der Kolonie bei.

Zur Entkolonialisierung

Einige in den 50er-Jahren im Belgisch-Kongo durchgeführte Reformen blieben hinsichtlich der Gleichstellung der autochthonen gegenüber der europäischen Bevölkerung ohne Folge. Zugleich entwickelte sich Afrika rasch in Richtung Entkolonialisierung. Da Belgien die Dynamik dieser Entwicklung verkannte, wurde es von den Ereignissen sowohl außerhalb als auch innerhalb der Kolonie überrascht.

Wie ein Schock wirkte es, als der belgische Professor Jef van Bilsen 1955 einen Artikel veröffentlichte, in dem er die Entkolonialisierung Kongos innerhalb der nächsten 30 Jahre forderte. Van Bilsen ging von dem Befund aus, dass bisher keine afrikanische Führungselite herausgebildet war und ein solcher Prozess eine Generation in Anspruch nehmen würde. Daher legte er einen „30-Jahres-Plan für die politische Emanzipation des belgischen Afrika“ vor. Der Artikel von van Bilsen rief differenzierte Stellungnahmen hervor. In Belgien wurde van Bilsens „30-Jahres-Plan für die Vorbereitung der Unabhängigkeit des Kongo“ (H. Strizek 1998:50) kategorisch abgelehnt. Im Belgisch-Kongo wurde 1956 in Anlehnung an den Plan van Bilsens von einem Kreis kongolesischer Intellektueller – unter der Führung von Joseph Ileo – zu diesem Zeitpunkt Leiter der katholischen Gesellschaft „Afrikanisches Bewusstsein“, „conscience afrikaans“, Ministerpräsident vom 5.9.1960 bis zum 2.8.1961 und ab 1990 bis zu seinem Tode im Jahre 1994 Führer der zu Mobutu in der Opposition stehenden Christlich-Demokratischen Sozialen Partei und unter der Schirmherrschaft des inzwischen verstorbenen Erzbischofs von Kinshasa, Joseph Kardinal Malula -, das „Manifeste de la conscience africaine“ verfasst, in dem erstmals mittelfristig die Unabhängigkeit des Kongo gefordert wurde. An dieser Stelle ist zu bemerken, dass dieses „Manifest“ den Anfang einer politischen Diskussion innerhalb der Schicht der sogenannten „Entwickelten“ („évolués“) darstellte, d. h. derjenigen, die immerhin eine mittlere Ausbildung nachweisen konnten. Im Gegensatz zum „Manifeste de la conscience africaine“ forderte das von „ABAKO“ („Allianz von Bakongo“) publizierte „Gegenmanifest“ unverzüglich die individuellen und politischen Grundrechte der afrikanischen Bevölkerung und die Zulassung politischer Parteien. Zur Erinnerung: Die „ABAKO“ war 1950 als eine Gesellschaft zur Förderung der kulturellen Identität der Bakongo und zur Pflege der Kikongo-Sprache gegründet worden und befasste sich auch mit der Geschichte des Kongo-Reiches.

Als Reaktion auf die beiden „Manifeste“ präsentierte der belgische König, Baudouin I., die Idee einer „belgisch-kongolesischen Gemeinschaft“ („communauté belgo-congolaise“), d. h. der Gleichberechtigung im Rahmen dieser Gemeinschaft, ohne dabei über die mögliche Unabhängigkeit des Kongo nachzudenken. Es kam in der Folge zur Gründung verschiedener politischer Parteien. 1957 fand der erste Versuch zur Einführung von Kommunalparlamenten statt. Gewählt wurde in den drei großen Städten Léopoldville (Kinshasa), Elisabethville (Lubumbashi) und Jadothville (Likasi).

Der Literatur zufolge hatten zusätzlich folgende Ereignisse eine bedeutende Rolle im Unabhängigkeitsprozess des Belgisch-Kongo

  • die Unabhängigkeit Ghanas (1957), die als Stimulus auf die kongolesische Elite wirkte;
  • der Panafrikanische Kongress in Accra, der Hauptstadt Ghanas, 1958. Dabei erlebte die kongolesische Delegation (Diomi, Lumumba, Ngalula und Kasavubu) das Selbstbewusstsein der afrikanischen unabhängigen Staaten;
  • die Brüsseler Weltausstellung (1958), die den Kongolesen aus verschiedenen Regionen die Möglichkeiten gab, zum einen erstmals direkt zu politischen Kreisen in Belgien Kontakt aufzunehmen und zum anderen sich persönlich kennenzulernen – da aufgrund der großen Entfernung und auch der Politik der Kolonialverwaltung solche Kontakte möglichst zu unterbinden, im Belgisch-Kongo sehr erschwert waren. Hinzu kam, dass der Aufenthalt in Brüssel den Kongolesen ermöglichte, Afrikanern aus anderen Ländern zu begegnen, sowie mit Journalisten jeglicher Couleur Kontakt aufzunehmen;
  • die Rede de Gaulles in Brazzaville, also vor der Haustür des Belgisch-Kongo, am 24.8.1958, in der der neue französische Staatschef den afrikanischen französischen Kolonien die Unabhängigkeit versprach.

Als am 4. Januar 1959 ABAKO-Mitgliedern in Léopoldville (heute Kinshasa) der Zutritt zu einem Versammlungslokal verweigert wurde, entflammten Unruhen, die brutal niedergeschlagen wurden. Es gab 40 Tote und 250 Verletzte. Repression und Konzession waren die Antwort der belgischen Kolonialpolitik auf die sich überstürzende Situation. „ABAKO“ wurde aufgelöst, ihre Führer verhaftet und nach Belgien gebracht. Der belgische König versprach in einer Rede am 13.01.1959 politische Reformen, die „ohne Ausflüchte“ zur Unabhängigkeit des Kongo führen sollten. Im April 1959 fand in Abwesenheit von ABAKO-Vertretern in Luluabourg ein Treffen von 8 kongolesischen politischen Parteien statt, bei dem Lumumba nationales Profil gewann. Der Kolonialminister konzedierte schließlich im Juni 1959, dass im März 1960 die Wahlen auf der provinzialen Ebene stattfinden. Diese Konzession führte zur Veränderung der Parteienlandschaft im Belgisch-Kongo.

Tribalistische Parteienlandschaft und fehlende Programmatik

Im Frühjahr 1960 gab es im Belgisch-Kongo etwa 20 politische Parteien. Die wichtigsten waren: ABAKO (Allianz der Bakongo), PUNA (Partei der nationalen Einheit), MNC/Lumumba (Kongolesische Nationalbewegung / Lumumba), MNC/Kalondji (Kongolesische National­bewegung/Kalondji – diese entstand infolge der Spaltung der MNC in einen fort­schrittlichen Flügel unter Führung von Lumumba und in einen gemäßigten Flügel unter Führung von Kalondji), CONAKAT (Bund der tribalen Vereinigung von Katanga), BALUBAKAT (Allgemeine Vereinigung der Baluba von Katanga), CEREA (Afrikanisch-Vereinigtes Zentrum), PNP (Nationale Fortschrittspartei), Parti du Peuple (Volkspartei), PSA (Afrikanische Solidarische Partei) und U.N.I.M.O. (Vereinigung der Mongo).

Die kongolesischen politischen Parteien waren sehr stark von ethnischem Partikularismus beeinflusst. Keine Politiker – sogar diejenigen nicht, die sich für die nationale Einheit einsetzten -, konnten sich den tribalistischen Einflüssen entziehen. Schon der Bezeichnung der meisten Parteien ist zu entnehmen, dass sie aus den in den Großstädten arbeitenden kulturellen und tribalen Selbsthilfeorganisationen hervorgegangen waren: „Allianz der Bakongo“ (ABAKO) – Bakongo: ein in der Nähe der Hauptstadt lebendes Volk, „Vereinigung der Mongo“ (U.N.I.M.O.) – Mongo: ein Volk aus der Equator-Provinz, „Vereinigung der Baluba von Katanga“ (BALUBAKAT) – Baluba, ein aus Kasai nach Katanga emigriertes Volk usw.

Bis auf die Forderung nach Unabhängigkeit besaßen die kongolesischen politischen Parteien keine präzisen und durchdachten Programme hinsichtlich der Probleme, die sich nach der Befreiung vom Kolonialismus stellen würden. Die Zielvorstellungen erwiesen sich als schwankend, die parteipolitischen Zwistigkeiten zwischen den Parteien mehrten sich. Zum ersten Eklat kam es, als die ABAKO die sofortige Unabhängigkeit forderte. Als Antwort auf die als politische Passivität interpretierte Zurückhaltung einiger Parteien, die den Standpunkt vertraten, dass das Volk noch nicht auf die „sofortige Unabhängigkeit“ vorbereitet sei, wurde unter der Federführung von ABAKO und der Teilnahme von MNC/Kalondji und PSA ein politischer Block (Cartell ABAkO-MNC/Kalondji-PSA) gegründet, der für die getrennte Unabhängigkeit der gesamten Provinz von Léopoldville plädierte – wohlgemerkt: die Mitglieder dieses Blockes, auch später Föderalisten genannt, hatten ihre politische Heimat in dieser Provinz. Nachdem sie sich von dieser Forderung trennten und für einen föderalistischen Kongo eintraten, schlossen sich einige Parteien (U.N.I.M.O., CONAKAT, Parti du Peuple) aus anderen Provinzen dem Block an. Die restlichen Parteien, die die Bezeichnung „Unitaristen“ bekamen, waren für den Erhalt eines zentral regierten Staates.

Die Abgrenzung zwischen den beiden Tendenzen war freilich nicht immer klar. Die föderalistischen oder unitaristischen Absichten der einen oder der anderen Partei hingen von den zur Diskussion gestellten Punkten ab. Wie das Beispiel der PNP zeigt, war sie im Allgemeinen eher unitaristisch – aber föderalistisch, wenn es um die Bodenfragen ging. Man liegt also nicht fehl in der Annahme, dass die meisten kongolesischen Parteien opportunistisch handelten.

Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass bei dem belgisch-kongolesischen „Runden Tisch“ (Table Ronde belgo-congolaise), an dem 155 Delegierte (100 Kongolesen und 55 Belgier) und 16 Berater teilnahmen, zur Entlassung Kongos in die Unabhängigkeit, im Januar 1960 in Brüssel, die kongolesischen politischen Parteien eine einheitliche Haltung gegenüber der Kolonialmacht einnahmen. Um ihre Positionen zu koordinieren, gründeten sie die Einheitsfront (Front Commun), deren Beschlüsse im Konsens gefasst wurden. So einigten sich alle in Brüssel vertretenen politischen Parteien darauf, dass die Unabhängigkeit im Rahmen eines vereinigten Kongo, also in den durch die Berliner Kongo-Konferenz (1884–1885) gezogenen Grenzen, vollzogen werden sollte. Die Bildung einer zweiten Kammer (Senat), besetzt mit jeweils gleich vielen Vertretern der sechs Provinzen, und die paritätische Besetzung der Zentralregierung durch die Vertreter der Provinzen stellten für die Föderalisten eine ausreichende Garantie für die Erfolg versprechende Durchsetzung ihrer Interessen dar. Die Einheitsfront konnte außerdem die Teilnahme Lumumbas, dessen Aufstieg die belgische Kolonialverwaltung zu verhindern versuchte und der seit dem 30. Oktober 1959 im Belgisch-Kongo inhaftiert war, am „Runden Tisch“ durchsetzten und das Unabhängigkeitsdatum auf den 30. Juni 1960 festsetzen.

Ein neuer Versuch zur Fraktionsbildung wurde im Rahmen der Konstituierung der Zentralregierung nach den allgemeinen Parlamentswahlen von 1960 unternommen. Daraus ergaben sich zwei Strömungen: die Nationalisten um Lumumba (MNC/Lumumba, CEREA, PSA, PRP und BALUBAKAT) und der Block der Nationalunion um Kasavubu (ABAKO, PUNA, MNC/Kalondji, U.N.I.M.O. und PNP). Nach langen Verzögerungen, die Folge der von den regionalen Zentrifugalkräften beherrschten schwierigen Regierungsbildung waren, konnte Lumumba, dessen Flügel der Kongolesischen Nationalbewegung (MNC/Lumumba) als stärkste Partei aus den Wahlen hervorging, eine aus 21 Ministern bestehende Regierung der nationalen Einheit bilden. Vereinbarungsgemäß wählte das Parlament dann den ABAKO-Führer Kasavubu zum ersten Staatspräsidenten. Am 30. Juni 1960 wurden die Unabhängigkeitsfeiern in Anwesenheit von König Baudouin von Belgien feierlich begangen. Sie warfen aber die Schatten voraus, die bis zum Jahre 1965 andauerten und als die „Kongowirren“ in die Geschichte eingingen.